„Es gibt viel zu tun – warten wir’s ab“ (Karl Dall):
Zum Stand der Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte
Die aktuelle Rechtslage
Seit 2019 bzw. seit 2022 müssen in Deutschland die Arbeitszeiten fast aller Beschäftigten vollständig erfasst werden (vgl. „Stechuhr“-Urteil des Europäischen Gerichtshofs bzw. Urteil des Bundesarbeitsgerichts). Ja, auch bei den Beamten. Ja, auch bei den Lehrkräften.
Eigentlich.
Eine neue Machbarkeitsstudie zur Erfassung der Lehrerarbeitszeit …
Tatsächlich ist „trotz dieser rechtlichen Klarheit das politische Agieren der Länder von einer deutlichen Zurückhaltung geprägt“.
So steht es in der neuen Studie „Lehrkräftearbeitszeit unter Druck“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Ende September 2024 veröffentlicht wurde. Verfasst wurde sie von Dr. Frank Mußmann, einem der renommiertesten Forscher zur Lehrkräftearbeitszeit, und Mark Rackles, Publizist und langjähriger Berliner Bildungspolitiker.
Der Untertitel der 38-seitigen Studie lautet „Klärungsbedarfe und Handlungsoptionen bei der Arbeitszeiterfassung“.
… und wie sich die Politik um eine Lehrerarbeitszeiterfassung drückt
Genau das also, wovor sich die politisch Verantwortlichen seither drücken. Verständlich, angesichts des derzeitigen Lehrkräftemangels und der Tatsache, dass der Glamourfaktor und die politischen Profilierungsmöglichkeiten bei dieser komplexen und undankbaren Pflichtaufgabe sehr überschaubar sind. Verständlich außerdem, wenn man bedenkt, dass in diesem Fall die Nichtumsetzung von seit mehreren Jahren geltendem Recht keinerlei Konsequenzen hat. „Ein Verstoß gegen § 3 des Arbeitsschutzgesetzes ist nicht bußgeldbewehrt.“, so Baden-Württembergs Kultusministerin Schopper. (Wie war das noch mal mit dem Unterschied zwischen „legal“ und „legitim“?)
In der Kultusministerkonferenz (KMK), in den Bildungsministerien und auch in den NRW-Bezirksregierungen zieht man sich bequem darauf zurück, dass außer einem Entwurf zu einem neuen Arbeitszeitgesetz aus dem Frühjahr 2023 ja noch keine konkreten Vorgaben aus dem Arbeitsministerium vorlägen. Der Bruch der Ampelkoalition im November 2024 kommt hier sehr gelegen, denn neben anderen Vorhaben wie der Rentenreform dürfte nun auch ein neues Arbeitszeitgesetz lange auf sich warten lassen. Und ob für die neue Regierung dann das Thema Arbeitszeiterfassung Priorität hat, steht in den Sternen.
So ignoriert man weiterhin die Tatsache, dass ungeachtet all dessen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung seit immerhin fünf bzw. zwei Jahren weiterhin besteht, und betreibt Vogel-Strauß-Politik bzw. spielt Beamten-Mikado nach dem Motto „Wer sich zuerst bewegt, hat verloren“.
Spielverderber Arbeitszeitforscher
Mußmann/Rackles betätigen sich hier als Spielverderber: Unser Dienstherr könnte ihre detaillierten, pragmatischen und durchdachten Vorschläge in ihrer Studie – z. B. eine schrittweise Vorbereitung der Erfassung durch zeitlich begrenzte Pilotprojekte – ab morgen umsetzen.
Die beiden Autoren haben gute Argumente und die Empirie auf ihrer Seite. So weisen sie nach, dass und aus welchen Gründen das bisherige Lehrerarbeitszeitmodell auf der Basis von Deputatsstunden nicht mehr zu halten ist – geht es doch von der Fiktion aus, dass man z. B. für die NRW-Gymnasien genau 25,5 Unterrichtstunden pro Woche vorschreiben kann und jede Lehrkraft auf wundersame Weise im Schnitt dann auf ihre 41 Zeitstunden kommt. Der Bio-Reli-Lehrer ohne Pflichtkorrekturen ebenso wie die Deutsch-Englisch-Lehrerin mit z. B. 600 Klassenarbeiten und Klausuren pro Schuljahr und meistens auch einer Klassenleitung. (In NRW ist Biologie-Religion eine zulässige Kombination von Nebenfächern – in denen keine Klassenarbeiten und meist nur wenige Klausuren geschrieben werden und die Lehrkraft im Allgemeinen auch keine Klassenleitung zu stemmen hat. Anders als in den Hauptfächern Deutsch und Englisch.) Natürlich war das 150 Jahre alte Deputatsstundenmodell für den Dienstherrn sehr bequem („Vom Deputatsstundenmodell bekommen wir alles, was wir brauchen“, so sinngemäß die frühere NRW-Bildungsministerin Löhrmann). Aber es passt schon lange nicht mehr in die Zeit.
Lehrerarbeitszeit hinreichend genau bestimmbar …
Mußmann/Rackles führen vor allem zwei gewichtige Argumente gegen die angebliche Unmöglichkeit an, die Arbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer zu erfassen: Zum einen widerlegen die einschlägigen Studien in ihrer Vielzahl und Qualität die Mär von der angeblichen Unbestimmbarkeit von Lehrerarbeitszeit – unlängst wieder aufs Tapet gebracht von der bereits genannten Kultusministerin Schopper, die aus einem Urteil des Bundeverwaltungsgerichts wie folgt zitiert: „die Arbeitszeit der Lehrkräfte [kann] nur grob pauschalierend geschätzt werden“. Vornehm verschwiegen wird dabei, dass das Urteil 20 Jahre alt ist und diese Aussage angesichts der Ergebnisse der Lehrerarbeitszeitforschung in den letzten Jahren schon lange nicht mehr stimmt. Zum anderen entlarven die Autoren die Falschbehauptung von der angeblichen Unzu(ver)lässigkeit von Zeiterfassungsinstrumenten wie Selbstaufschreibungen (z. B. per App), womit unser Dienstherr noch vor einigen Jahren bei den Arbeitszeit-Prozessen des Korrekturlehrerverbandes argumentierte – leider erfolgreich.
… aber vor den Ergebnissen hat man Angst
Voraussichtlich wird man seitens der Politik wieder auf Zeit spielen. Indem man darauf vertraut, dass die künftigen und derzeitigen Klageverfahren (siehe unten) von betroffenen Lehrenden sich in die Länge ziehen werden. Indem man erst einmal in aller Ruhe weitere Untersuchungen veranlasst zur inzwischen hinreichend untersuchten Arbeitszeit von Lehrkräften. Indem man Kommissionen zusammenstellt und diese dann bis zum St.-Nimmerleins-Tag vor sich hin werkeln lässt – mindestens aber bis zum Ende der Legislatur, an dem man das Problem dann abgeben kann. Nachvollziehbar, denn auch eine institutionalisierte Arbeitszeiterfassung wird nur die Ergebnisse der vorliegenden Studien bestätigen, dass wir Lehrkräfte unser Soll im Schnitt übererfüllen und daher viele von uns künftig weniger arbeiten müssten. Verständlicherweise hat in der Bildungspolitik niemand Lust, sich dann mit bestimmten Lehrerverbänden und denjenigen Lehrkräften anzulegen, die sich im Falle einer stringenten zeitlichen Erfassung aller schulischen Pflichttätigkeiten als Verlierer/-innen sehen, weil sie vielleicht nicht auf die vorgeschriebenen 41 Wochenstunden (NRW) kommen.
Dann schon lieber Preise verleihen und Tablets verschenken
Da ist es doch viel angenehmer und publikumswirksamer, in einem schlechten, weil vernachlässigten Schulsystem immer mal Schulen oder Lehrerinnen und Lehrer öffentlichkeitswirksam auszuzeichnen, die aus den widrigen Bedingungen noch das Beste zu machen versuchen.
Eine weitere schöne Möglichkeit für die Politik, die Illusion eines insgesamt doch halbwegs funktionierenden Schulsystems aufrechtzuerhalten, ist natürlich auch die Digitalisierung: Man kippt im Zuge des Digitalpakts massenhaft iPads in die Schulen und verbessert deren WLAN-Empfang, dann klappt das mit dem modernen Unterricht – zumindest nach außen hin. Außerdem ist das eine wunderbare Methode, den Mangel an echten Lehrkräften zu kompensieren, man denke hier nur an das sächsische Modellprojekt „DISEL“, bei dem die Schülerinnen und Schüler digitalgestützt selbst lernen sollen, betreut von Assistenzkräften und Freiwilligen …
Hilft uns der Rechtsweg?
Natürlich haben die Lehrkräfte die Möglichkeit, die Erfassung ihrer Arbeitszeit einzuklagen – so geschehen im Januar 2024 in Baden-Württemberg. Aber dem Vernehmen nach ruht das Verfahren, und generell kann es bei solchen Klagen Jahre dauern, bis hier etwas entschieden wird.
Öffentlicher Druck kann helfen
Was also kann uns Lehrerinnen und Lehrern dann helfen, zu unserem Recht zu kommen? Öffentlichkeit herstellen! Das Thema Schule und Bildung interessiert viele, eine gute Bildung für unsere Kinder und Jugendlichen liegt den meisten am Herzen. Fragen Sie die Bundestagsabgeordneten Ihres Wahlkreises nach der Arbeitszeiterfassung. Schreiben Sie Leserbriefe an die Zeitung, wirken Sie in den einschlägigen Online-Foren der großen Zeitungen und Lehrer-Internetseiten an der Willensbildung mit. Treten Sie in einen Lehrerverband ein, nehmen Sie an Demonstrationen teil. Argumentieren Sie bei Diskussionen, bei denen bekannte Killersätze fallen wie „Lehrer sind faule Säcke“ und „Augen auf bei der Berufswahl!“, engagiert mit Zahlen und Fakten. Informieren Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen darüber, dass ihre Arbeitszeit seit Jahren erfasst werden müsste und dass eine verpflichtende Erfassung für die Mehrzahl das Ergebnis brächte, dass sie zu viel arbeiten und entlastet werden müssen. Dokumentieren Sie Ihre eigene Arbeitszeit (besonders einfach lassen sich z. B. die Zeiten für die unvermeidlichen Korrekturen erfassen), egal, ob auf Papier, per Tabellenprogramm oder digital. Empfehlungen zu geeigneten Apps finden Sie hier.
Wenn der Dienstherr unsere Arbeitszeit nicht erfassen will – wir wollen es und können es!